Der Maler und der Geist des Lebens

Wisst ihr eigentlich, woher die Neugeborenen ihr Antlitz haben?
Der Maler Tuo-lan-ka malt sie im Himmel für die Kinder, bevor sie auf die Welt kommen.

Das kam so:
Vor langer Zeit lebte der Maler Tuo-lan-ka in einer einfachen Hütte. Einen Maler wie diesen würde man wohl auf der ganzen Welt vergeblich suchen!

Er bemalte, was immer er fand, ob es nun Papier, Seide oder Holz war. Wenn er in den Tempel ging, dann nicht, wie ihr vielleicht glaubt, um dort zu beten. Nein, er sass viel lieber in einer stillen Ecke, beobachtete jeden Tag Tempelbesucher und prägte sich dessen Gesicht tief ein. Dann ging er wieder nach Hause, nahm seine Farbtöpfe und Pinsel und malte mit viel Hingabe ein Antlitz nach dem anderen.

Jeden Tag malte er sieben Tag.
Einmal als er gerade an dem neunundvierzigsten Gesicht war, klopfte jemand an die Tür. Ein Bote des Himmelskönigs stand draussen und teilte ihm mit, dass er ihn auf Befehl des Königs mitnehmen sollte. „Warte noch einen Augenblick“, sagte da der Maler, „ein Gesicht ist noch nicht vollendet, solange musst du dich noch gedulden.“

Er liess den Boten stehen und eilte an das Bild. Der Bote des Himmelskönigs war neugierig und so folgte er ihm und besah sich das Gemälde.

Kaum aber hatte er einen Blick auf das Bild geworfen, da lebte sein Herz auf. Leise wie auf Zehenspitzen, schlich er aus der Hütte und kehrte in den Himmel zurück.

„Wieso kommst du allein?“, fragte da der Himmelskönig erstaunt, als er den Boten ohne den Maler kommen sah.

„Verzeiht, es ging nicht. Ich musste ihn noch ein Geicht zu Ende malen lassen.“ „Seine Zeit auf der Erde ist vorbei. Er wird gebraucht hier im Himmel. Du musst ihn zu mir bringen!“ befahl da der König und der Bote machte sich schnell auf den Weg und klopfte wieder an die Tür.

Als der Maler Tuo-lan-ka sah, dass es keinen Aufschub mehr gab, nahm er seine Farbtöpfe, Pinsel und Skizzen in die eine Hand, in die andere eine Tempelkerze und folgte dem Boten in den Himmel. Er blies zum Abschied von der Erde seine Kerze aus und verneigte sich vor dem Himmelskönig. Dieser begrüsste ihn und sprach:
„Ich sehe, dass du ohne die Malerei nicht sein kannst. So wirst du in Zukunft deinen Platz beim Geist des Lebens haben und ihm bei der Arbeit helfen. Der Bote wird dich führen.“

Seit diesem Tag malt der Maler Tuo-lan-ka für jedes neugeborene Kind, dem der Geist des Lebens eine neue Seele einhaucht, ein Antlitz.

Er malt sie aus seinen Erinnerungen auf der Erde, aber ein bisschen Himmelsstaub bleibt an ihren Gesichtchen hängen.

Märchen aus Tibet

Die drei Spiegel der Zauberin

Ein König hatte nur eine einzige Tochter. Diese aber war ebenso schön wie klug. Nach dem Tode ihres Vaters bestieg sie den Thron. Bald hatte ein Prinz aus einem benachbarten Königreich um ihre Hand angehalten.

Sie aber sprach: „Ich werde nur den zum Gemahl nehmen, der drei Dinge zum Geschenk bringen wird: einen glänzenden Stern, einen silbernen Mond und eine glühende Sonne.“
Der Königssohn dachte lange über ihre Worte nach, während er zu seinem Vater nach Hause ritt. Dort angekommen, erzählte er ihm, was die junge Prinzessin sich gewünscht und sprach: „Ich werde nun in die weite Welt hinausziehen und nach dem glänzenden Stern, dem silbernen Mond und der glühenden Sonne suchen.“

Der Vater versuchte vergeblich, ihn zurückzuhalten. Und so zog der Königssohn fort. Er reiste durch viele Länder und Königreiche, durch Städte und Dörfer und fragte überall nach den drei Dingen. Die reichen Menschen aber besassen keine Weisheit, und die Armen hatten keine Einsicht. Da wandte er sich um Rat an die Vagabunden, Zauberinnen und Zauberer, die, die verachtet von reich und arm, durch die Welt zogen, denn er hatte erkannt, dass sie die wahre Lebensweisheit besassen. Aber auch sie konnten ihm nicht weiterhelfen.
Eines Abends wanderte er an einer armseligen Hütte ganz am Ende eines Dorfes vorbei. Plötzlich vernahm er von dort Seufzen und Stöhnen. Als er eben in die Hütte hineingehen wollte, hielt ihn ein Mann am Ärmel fest und sprach: „Geh da nicht hinein, Freund, da drinnen stirbt eine Zauberin, eine Hexe!“

Der Prinz aber achtete nicht auf die Worte und ging in die Hütte hinein. Da lag in der Tat eine Zauberin auf einem Haufen getrockneter Blätter im Sterben. Sie wandte mühsam den Kopf nach ihm und sprach mit schwacher Stimme: „Schon so lange warte ich auf dich. Du kommst sehr spät. Du sollst die Dinge bekommen, die du suchst. Unter einer Bedingung will ich dir dazu verhelfen. Höre, wenn mein Leben zu Ende sein wird, dann nimm meine Hand in die deine und mache das Zeichen des Kreuzes über mir. Dann aber wirf den Inhalt dieser Flasche nach dem Fussende des Bettes, denn dort harrt der Teufel auf meine Seele.“

Der Königssohn willigte ein und nahm die Flasche an sich. Er erkannte, dass sie mit Weihwasser gefüllt war. Die Hexe richtete sich ächzend auf und holte unter den Blättern, auf denen sie ruhte, drei silberne Spiegel hervor. Dann sprach sie: „Öffne das Fenster! Ich muss der Sonne, dem Mond und den Sternen in ihrem Lauf folgen können...Und nun komm und gib mir deine Hand!“
Die Zauberin begann nun mit der anderen Hand allerlei seltsame und wunderbare Zeichen auf den ersten Spiegel zu schreiben und murmelte dabei merkwürdige Worte. Nach eineigen Augenblicken zeigte sich ein heller Punkt auf dem Spiegel, der immer grösser und stärker wurde, bis schliesslich ein Stern darin glänzte, dass es nur so eine Pracht war.

Das ist das eine“, sprach die Zauberin.
Sie nahm daraufhin den zweiten Spiegel und begann wiederum dieselben Zeichen zu schreiben und dieselben Worte zu murmeln. Jedoch dauerte alles diesmal viel länger als beim ersten Male. Endlich aber breitete sich auf dem zweiten Spiegel ein silberner Glanz aus. In dem Spiegel lag der Widerschein des silbernen Mondes.

Das ist das zweite“, sprach die Zauberin.
Der Jüngling sah, dass sie mit dem Tode rang. Schweiss rann in dicken Tropfen von ihrer Stirn, und ihr Atem war keuchend.

Warum bist du nur so spät gekommen“, jammerte sie, nun weiss ich nicht, ob ich den letzten Zauber noch vollbringen kann.
Sie nahm den dritten Spiegel, schrieb mit letzter Kraft die Zeichen und murmelte die Worte. Alles dauerte diesmal noch viel länger als die beiden ersten Male. Mit klopfendem Herzen sah der Königssohn zu. Der Angstschweiss brach ihm aus, und sein Gesicht war so bleich wie das der strebenden hexe. Endlich, endlich aber war der Zauber vollendet, und in dem dritten Spiegle lag die glühende Sonne.

Die Zauberin reichte ihm den Spiegel und sprach: „Mein Herz bricht. Denk an dein Versprechen.“
Als die Zauberin verschied, machte der Jüngling das Zeichen des Kreuzes über ihr und warf das Weihwasser nach der Stelle, wo der Teufel, der vergeblich gewartet. Das Zimmer aber war voll Gestank nach Pech und Schwefel.

Der Königssohn zog von dannen mit seinen drei Spiegeln, darin der glänzende Stern, der silberne Mond und die glühende Sonne eingefangen waren. Als er sie der jungen Prinzessin überbrachte, verwunderte diese sich sehr, und die Hochzeit ward in aller Pracht gefeiert.

Märchen aus Flandern Aus „Märchen von Hexen und weisen Frauen“ Hrsg. Sigrid Früh

Die Kinder von Sonne und Mond

Am Anfang der Zeit waren Sonne und Mond miteinander verheiratet, bewohnten zusammen ein Haus und hatten viele Kinder, Jungen und Mädchen. Aber da es immer mehr Kinder wurden, sagte der Sonnemann eines Tages zu seiner Frau: „Wir werden unsere Kinder töten. So bleibt uns selbst mehr zum Essen, und wir brauchen nicht so viel zu arbeiten.“ Die Mondfrau wollte erst nicht, aber da ihr Mann keine Ruhe gab, stimmte sie endlich zu.

"Was willst du denn mit unseren Kindern machen?“ fragte die Mondfrau. „Ich werde sie im Meer ersäufen“, antwortete der Sonnemann. Und dann musste die Mondfrau einen grossen Sack nähen. Aber während sie da so nähte, taten ihr ihre Töchter Leid. Und als der Sack fertig war, fragte sie ihren Mann: „Soll ich die Kinder in den Sack tun?“ – „Ja, aber vergiss keines, sonst werde ich böse.“

Da ergriff die Mondfrau alle Söhne und steckte sie in den Sack. Die Mädchen ergriff sie auch, doch sie warf sie in ein grosses Tongefäss und setzte sich oben auf die Öffnung. „Sind alle Kinder im Sack?“, fragte der Sonnemann. „Ja, alle sind drin.“ – „Der Sack ist aber gar nicht voll.“ – „Ich habe ihn zu gross genäht.“

Der Sonnemann traute seiner Frau nicht so recht, und er suchte im ganzen Haus herum, aber er fand kein einziges Kind mehr. Da nahm er den Sack auf die Schulter und wanderte hin zum grossen Meer. Dort schüttete er die Kinder ins Wasser, und die Jungen verwandelten sich sofort in Fische.

Als der Mann gegangen war, nahm die Mondfrau den Tonkrug und lief in entgegengesetzter Richtung davon. Sie lief und lief, bis sie in ein Land kam, wo es ganz finster war. Da merkte sie, dass sie weit von ihrem Mann fort war. Sie schüttete ihren Krug aus, und die Mädchen kamen alle herausgekrochen und waren kleine Sterne. Noch heute läuft der Sonnemann hinter seiner Frau und hinter den Sternenmädchen her, aber er erwischt sie nie.

Die Fische im Meer aber kümmern sich weder um Vater noch um Mutter. Sie schwimmen, wie es ihnen passt. Die einen sieht man mehr am Tag, die andern mehr bei Nacht.

Indio-Märchen aus Brasilien, aus dem Buch „3-Minuten Märchen aus aller Welt“, von Marlis Arnold

Die Braut des Mondes

Mitten im weiten Ozean, wo man mit dem Boot viele Tage und Nächte segeln muss, um ein anderes Land zu erreichen, gibt es eine grosse Insel. Auf der Insel soll vor langer Zeit Renga, was Schöne heisst, mit ihrer einzigen Tochter Nuahine gelebt haben. Schon als Kind war Nuahine von bezaubernder Schönheit, und von Jahr zu Jahr wurde das Mädchen anmutiger. Bald würde sie im heiratsfähigen Alter stehen. Aber Renga, die mit abgöttischer Liebe an ihrer Tochter hing, träumte davon, Nuahine nur mit einem vornehmen Bräutigam zu verheiraten und sie nicht einem unter vielen zu geben. Darum führte sie die Tochter in eine Höhle in der Nähe des Ufers, damit das Licht der Sonne nicht ihre zarte Haut verrenne.

Und Abend für Abend kam Renga in die Höhle und brachte dem Mädchen Bananen, gekochte Kartoffeln, Hühner und Fische. So flossen die Jahre dahin, und eines Abends umarmte Renga die vor ihr kniende Nuahine und sprach: „ Du bist jetzt alt genug, um zu heiraten. Ich weiss, dass schon viele Männer um dich warben, aber du sollst einen schönen und vornehmen Bräutigam bekommen.“ Und dann schenkte sie ihr ein schönes Gewand, wie es nur vornehme Jungfrauen trugen, verschloss die Höhle mit einem leichten Stein, und nur nachts durfte Nuahine ihr Gefängnis verlassen. Nuahine wälzte sich in einer Vollmondnacht unruhig auf ihrem Lager hin und her und konnte keinen Schlaf finden.

Darum beschloss sie, ans Ufer zu gehen, um sich in den Wellen zu erfrischen. Als die Wellen sie umspülten, glaubte sie auf einmal weit entfernten Gesang zu vernehmen. Doch plötzlich vernahm sie den Gesang aus der Nähe, und dabei verspürte sie einen gar seltsamen Schmerz im Herzen. Und als sie zu der Höhle eilen wollte, erblickte sie einen schönen Jüngling mit einem milden und sanften Gesicht, der bei ihrem Gewand stand, das sie am Ufer zurückgelassen hatte. Wie verzaubert schaute sie ihn an und konnte den Blick nicht von ihm wenden.

Da sprach der Jüngling: „Habe keine Angst, schönes Mädchen, denn schon lange kenne ich dich, weil du des Nachts so manches Mal im Meer gebadet hast.“ Nach diesen Worten legte er einen Fisch und eine Schildkröte auf einen Stein und entfernte sich langsam, wobei Nuahine wieder den Gesang vernahm. Nuahine, der das Geschehene nicht aus dem Kopf gehen wollte, beachtete weder den Fisch noch die Schildkröte, sie vernahm nur den zarten Gesang, der sich langsam entfernte. Und sie vernahm ihn auch in der zweiten und dritten Nacht und dann noch in vielen, vielen Nächten.

Und als der Mond wieder als runde Scheibe am Firmament stand, badete Nuahine wieder im Meer. Aber wie erstaunt war sie, als sie plötzlich wieder den Gesang vernahm, den sie schon einmal gehört. Und gleich darauf sah sie den schönen Jüngling, der bei ihrem Gewand am Ufer stand. Er verneigte sich und begrüsste sie froh, dann aber erzählte er ihr von den Bäumen und Tieren, den leuchtenden Farben der Blumen, und Nuahine hörte aufmerksam zu und fühlte dabei eine grosse Freude im Herzen. Und als der Jüngling von ihr Abschied nahm, sprach er: „ Schönes Mädchen, verlasse nie die Höhle am Tage, sonst könnte dir mein Bruder deine zarte weisse Haut verbrennen!“ Und als er ging, vernahm Nuahine wieder den Gesang, der sich immer weiter entfernte, und sie hörte ihn auch in der zweiten und dritten Nacht und dann noch in vielen, vielen Nächten. Eines Tages aber bracht ihr die Mutter nicht nur Speisen und Getränke, sie brachte auch wohlriechende Öle und sprach: „Ich habe dir einen jungen schönen Bräutigam e4rwählt, der wird dir gut gefallen. Ich brachte dir auch wohlriechende Öle, damit du deinen Körper salben, und Blumen, damit du dein Haar schmücken kannst, so wie es sich für eine vornehme Braut gehört.“

Und als die Mutter davongegangen, da hatte ihr Nuahine weder von dem schönen Jüngling erzählt, der bei Vollmond zu ihr kam, noch von dem wunderbaren Gesang. So vergingen wieder viele Tage und Nächte. Und als es wieder Vollmond wurde, da kämmte Nuahine sich ihr langes Haar, schmückte es mit Blumen, rieb sich mit wohlriechenden Ölen ein und begab sich ans Ufer. Da vernahm sie fernen Gesang, der plötzlich aus der Nähe kam, und schon trat der schöne Jüngling auf sie zu. Er nahm sie zärtlich in die Arme und sprach: „Ich bin der Mond, ich bin Mahina, und trage dich schon lange in meinem Herzen. Komm mit mir und werde meine Frau, dann werden wir nicht nur unsterblich sein, sondern du wirst dich auch deines Namens, der ja Botin des klaren Himmels bedeutet, würdig erweisen.“ Als Nuahine das gehört, schlug ihr Herz noch schneller, und in dem Augenblick hatte sie alles vergessen: die Mutter, die Höhle und auch den von der Mutter erwählten Bräutigam. Und da umarmte auch sie den Mond. Der aber winkte nur leicht mit der Hand, und Nuahine sah mit Staunen, wie sich plötzlich eine weisse Leiter vor ihr erhob, die bis ans Himmelsgewölbe reichte. Da nahm der Mond sie bei der Hand und stieg mit ihr empor.

Und als ein Donnerschlag Himmel und Erde erschütterte - da wurde Nuahine seine Frau.

Märchen aus Polynesien aus dem Buch: „Die Braut des Mondes“, Dausien Verlag

Eine unglückliche Liebe

Sonne und Mond sind Mann und Weib und einst waren sie auch nicht ungetrennt, sondern lebten in Harmonie und Eintracht zusammen.

Aber mit der Zeit kümmerte sich der Mond um seine Dinge und seine Frau, die hitzige Sonne, schalt ihn kalt und unnahbar in der Nacht.

Sie schlug ihm eine Wette vor, die sie im Zorn aussprach und mit einem heiligen Eid beschwor: Derjenige, welcher als erster erwachen würde, solle das Recht haben bei Tage zu scheinen, dem Langschläfer gehöre die Nacht.

Ihr Mann, der Mond, lachte gutmütig, nahm sie in den Arm, hielt das ganze für einen Scherz und schlief ein.

Die Sonne aber konnte vor lauter Ärger nicht schlafen und so zündete sie schon nachts um zwei der Welt ihr Licht an. Daraufhin weckte sie den noch im Schlaf lächelnden Mond und verkündete stolz, sie habe die Wette gewonnen, und er werde schon sehen, was er von seiner Schläfrigkeit hätte.

Und weil die Sonne es mit einem heiligen Eid beschworen hatte, leuchtet die Sonne seitdem am Tag und der Mond bei Nacht.

Die Sonne aber bereute bald ihren Schwur, den sie in der Hitze ihres Zorns gesprochen hatte, denn sie liebte ja den Mond, ihren Mann. Und auch dieser fühlte sich einsam auf seinem nächtlichen Weg. Er bereute, so kalt gewesen zu sein, und eine grosse Sehnsucht befiel ihn.

So gross ist die Sehnsucht der beiden, dass sie manches Mal die Macht des Eides brechen können. Dann finden sie zusammen und auf der Welt herrscht eine Sonnenfinsternis. Weil sie ihre Begegnungen aber mit gegenseitigen Vorwürfen beginnen, wer denn nun die Schuld an der Trennung trage, kommt es immer gleich zu Streit. Die Zeit, welche ihnen zur Versöhnung gewährt ist, läuft ab, und die Sonne muss ihrem Eid entsprechend weiter wandern.

Blutrot vor Zorn macht sie sich auf den Weg. Hätten sie nicht gestritten, wären sie vereinigt worden. Bis der Zorn der Sonne sich legt, vergeht wieder geraume Zeit, und erst eine neue Sonnenfinsternis zeigt an, dass die beiden Unglücklichen sicher wieder einmal getroffen haben.

Meist ist die Sonne hitzig vor lauter Liebeszorn. Manchmal aber, wenn sie so alleine über den Tageshimmel geht, sieht sie ihr Unrecht ein. Sie denkt an die Geheimnisse, die ihr der Mond mitgeteilt hatte in den langen Nächten. Dann weint sie blutige Tränen und steigt blutrot in die Wellen eines fernen Meeres.

Aber auch der Mond empfindet Trauer und Leid, dass er nicht zu seiner geliebte Sonne kann, um sich mit ihr zu vereinen und in ihrer Hitze zu wachsen.

In Zeiten da er ohne Hoffnung ist, kann er nicht mehr schlafen und nichts mehr essen. So nimmt er ab, bis er zur schmalen Sichel wird und schliesslich fast ganz verschwindet.

Doch dann melden sich seine Lebensgeister wieder, er schöpft Hoffnung und wächst wieder zu seiner prachtvollen Gestalt. Wenn er sich dann getäuscht fühlt und merkt, dass er die Sonne nicht erreichen wird, nimmt er wieder ab.

Von seiner unglücklichen Liebe ist er weich und milde gestimmt. Daher klagen ihm und seinem weichen Licht auch die unglücklich Liebenden ihr Leid und können darauf vertrauen, dass er sie versteht.

Der Mond- Märchen, Brauchtum, Aberglaube, von Sigrid Früh

Mondmärchen

In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, wünschte sich ein Mädchen den Mond.

Der Mond stieg alsbald vom Himmel, verwandelte sich in einen gut aussehenden jungen Mann und trat vor das Mädchen. "Hier bin ich", sagte der Mond, "dein Wunsch ist erfüllt".

Das Mädchen aber glaubte dem Mond nicht. Leuchtend und strahlend war er da oben am Himmel gewesen und nicht ein gewöhnlicher junger Mann. Und es jagte ihn vor die Tür.

Da war der Mond traurig. Und er war müde. Schliesslich war es sehr mühsam gewesen, vom Himmel herabzusteigen, und auch das Verwandeln hatte ihn angestrengt. Und als er wieder zum Himmel hochsteigen wollte, da merkte er, dass es nicht ging. So suchte er sich eine passende Schlafstelle und ruhte sich aus.

Das Mädchen aber wartete am Abend vergeblich. Kein Mond war zu sehen, nicht ein Lichtstrahl fiel durch die pechschwarze Nacht. Kein Schimmer.

Auch am nächsten Abend wartete das Mädchen. Es stand am Fenster und schaute so angestrengt zum Himmel, dass seine Augen schmerzten. Doch alles war wie am Abend zuvor. Da wurde es sehnsüchtig und weinte. Bald aber wurde es auch wütend und wünschte sich den Tag herbei. Auf ihn war zumindest Verlass.

Der Mond hatte sich mittlerweile etwas ausgeruht und stieg langsam zum Himmel empor. Doch durch die vielen Anstrengungen war er sehr dünn geworden, und er hatte einen krummen Rücken bekommen. Oben am Himmel aber erholte er sich wieder prächtig und nahm Nacht für Nacht zu, während er die Erde betrachtete.

Als er wieder kugelrund und bei bester Laune war, hörte er abermals das Mädchen, wie es sich den Mond wünschte. Und auch dieses Mal stieg er hinab, langsam und ohne Hast. Auf der Erde angekommen, überlegte er lange, in was er sich heute verwandeln könnte, um dem Mädchen zu gefallen. Gegen ein weisses Pferd wird sie wohl nichts einzuwenden haben, dachte er. Unter grösster Anstrengung verwandelte er sich in einen Schimmel mit wilder Mähne.

Wenn ich mir ein Pferd gewünscht hätte, würde ich mich über dich freuen, sagte das Mädchen, als das Pferd an seine Tür klopfte. Es tat ihm ein wenig leid, dass es den Schimmel mit der wilden Mähne wegschicken musste. "Aber was fange ich denn mit einem Pferd an?" seufzte es.

Und der in einen Schimmel verwandelte Mond seufzte auch, traurig wollte er wieder zum Himmel hochsteigen. Wie schon beim letzten Mal musste er sich aber vorher ein wenig ausruhen, abnehmen und einen krummen Rücken bekommen, bevor er die Rückreise antreten konnte.

Als er das alles hinter sich gebracht hatte und wieder prächtig erholt vom Himmel lachte, erhielt die Nacht ihren strahlenden Glanz zurück. Da hörte er schon wieder das Mädchen, das am Fenster stand und sich den Mond wünschte. Also stieg er ein drittes Mal hinab und trat jetzt ohne jede Verkleidung vor das Mädchen, einfach so, wie er war.

Ich bin mal dick und mal dünn, sagte der Mond etwas schüchtern,"mal bin ich da und mal nicht".

Und ich habe mir dich gewünscht, antwortete das Mädchen, "gerade, weil du so bist wie du bist".

Da war der Mond froh. Er seufzte tief und war erleichtert. Als sie sich umarmten, da musste er lachen, weil er sich so unnötig angestrengt hatte. Und er dachte, wie recht doch das Mädchen hat: Denn alles und nichts ist von Dauer.

Ein Märchen von Manfred Eichhorn aus dem Buch "Alle Farben dieser Welt", erschienen im Lucy Körner Verlag.

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